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Fundamentalismus

Die Politisierung der Religion im Zeitalter des Fundamentalismus

Prof. Dr. Martin Stöhr, Bad Vilbel,
Vorsitzender der Martin Niemöller Stiftung

Ulm, am 19. Oktober 2005

politisches Forum in der vh

Thesen zur Gesprächseröffnung

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1. Fundamentalismus äußert sich

  • als Verbot oder Erschwernis, Alternativen zum herrschenden Denken, Handeln und Machtgefüge zu denken oder anzustreben - schränkt also Freiheit ein;
  • als Zuschreibung von Einsicht und Durchblick an eine mit Macht und letzter Autorität ausgestattete Minorität - verstärkt also inhumane Abhängigkeiten;
  • als Aufteilung der Welt in Gute und Böse, wozu die positive Platzanweisung an sich selbst und die negative an die "Anderen" gehört - verschärft und überhöht also Konflikte;
  • als Definitionsgewalt (die immer der Beginn von Gewalt ist) über die "Anderen", deren authentisches Selbstverständnis uninteressant bleibt und nicht zur Kenntnis genommen wird; sie werden als unentbehrliche Belehrbare, Sündenböcke (die beliebtesten "Haustiere" der Menschen), Feinde oder Dumme charakterisiert, die kalt gestellt oder eliminiert werden müssen - bedroht also die Identität des "Anderen";
  • als Auftrag, das Gute durch die Guten gegen die "Anderen" auch mit medialer, politischer, ökonomischer oder militärischer Gewalt durchzusetzen - weitet also die Gewalt aus;
  • als Reduktion von undurchschauten Komplexitäten und Interdependenzen der Neuzeit zu simplen Problemlösungen - verkauft also die Menschen für dumm.

2. Fundamentalismen weigern sich,

    die jeweilige Modernität zu akzeptieren, wobei nicht zu vergessen ist, dass auch "Modernität" (durch Modediktat, Opportunismus, Konformismus etc.) fundamentalistische Ansprüche erheben kann.

3. Fundamentalismen gibt es in säkularer und in religiöser Form.

4. Säkulare Fundamentalismen

    treten mit dem Anspruch auf, quasi naturwissenschaftlich feststehende Wahrheiten zu vertreten, z.B.
  • in den Rassengesetzen des Nationalsozialismus,
  • im historischen Materialismus des Kommunismus,
  • in einem hegemonialen Nationalismus oder
  • in einer zum Naturgesetz erklärten ökonomischen Globalisierung (Michael Rogowski).

5. Der religiöse Fundamentalismus der Neuzeit

    datiert aus dem Jahr 1910, als eine Gruppe evangelikaler Christen (die nicht alle Fundamentalisten sind!) Gläubige um die Zeitschrift "The Fundamentals" sammelte, zu deren Programm folgende Punkte gehörten:
  • Absicherung der als gefährdet angesehenen Glaubensfundamente,
  • Ablehnung historisch - kritischer Erforschung der Heiligen Schrift(en),
  • Ablehnung moderner Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften (z.B. der Evolutionstheorie),
  • Spekulationen über das Weltende und den Endkampf (Har Meggido nach Off. 16,16) zwischen der "göttlichen" und einer "widergöttlichen" Macht,
  • Eintreten für ein wortwörtliches Verständnis der Heiligen Schriften (z.B. Kreationismus), das die Auskunft der Schöpfungsgeschichte auch für eine naturwissenschaftliche Auskunft hält, statt sie - wie sie gemeint ist - zu verstehen als eine theologisch - anthropologische Deutung über Herkunft, Orientierung und Zukunft des Menschen,
  • Festhalten an Ordnungsvorstellungen, die "Vaterland" oder "Familie" als gottgegebene Ordnungen hinnehmen und Angriffe auf diese Ordnungen als Angriffe auf Gott und die Weltstabilität verstehen.

6. Ein römisch - katholischer Fundamentalismus

    zeigte sich (ebenfalls 1910) im sog. Antimodernisteneid, den auf Anordnung von Pius X bis 1967 alle Priester schwören mussten,
  • der unbedingten Gehorsam gegenüber der Autorität des unfehlbaren Lehramtes verlangte,
  • die Ablehnung der "Moderne" (z.B. ihrer historischen Kritik, ihrer modernen Naturwissenschaften, Philosophien und Kultur, der Aufklärung, der Menschenrechte und der Gleichberechtigung der Frauen) umfasste.

7. Ein jüdischer Fundamentalismus

    zeigt sich derzeit auch als Minderheitserscheinung in den nationalistischen oder religiösen Positionen der Siedler in der Westbank,
  • die sich auf Bibel sowie
  • die Anwesenheit des jüdischen Volkes in Judäa und Samaria
  • nicht nur in biblischen Zeiten, sondern - nach dem Ende der Vertreibung durch die Römer 135 n.Chr. -
  • bis in die Neuzeit stützen ("Land, den Vätern gegeben").

8. Ein islamischer Fundamentalismus

  • streicht derzeit vor allem die Demütigung durch den "Westen" heraus,
  • erinnert nur an die europäische Kolonialgeschichte,
  • an die strategischen und ökonomischen Interessen des "Westens",
  • vergisst die eigene Sklavenhalter- und Expansionsgeschichte,
  • spricht lieber verklärend vom (in der Tat eindrucksvollen) Zusammenleben der drei abrahamischen Religionen in Andalusien während einiger Generationen des Mittelalters,
  • kennt keine Gleichberechtigung der Frau.

9. Ihm fällt diese Position zu vertreten leichter,

    da er die jüdisch-christliche Trennung von Religion und Staat nicht kennt, sich also nicht nur auf eine Reihe "islamischer" Staaten und ihre ökonomischen, medialen und militärischen Machtmittel stützen kann, sondern auch auf das Einverständnis der sog. Umma, der Einheit von religiöser und politischer Gemeinschaft.

10. Ein "positives" Verständnis der religiösen Fundamentalismen

    und eine Auseinandersetzung mit ihm muss deren Grundanliegen ernst nehmen und als sinnvolle Anfragen (wenn auch in falscher Gestalt) an eine sich "selbstverständlich" als nichtfundamentalistisch begreifende Gesellschaft und Gegenwart verstehen:
  • Welche Fundamente braucht der Mensch, sich selbst und sein Leben zu verstehen und zu gestalten?
  • Da die Menschen ohne ein Gen für Moral geboren werden, sind es die Kultur prägenden Religionen, nach denen als Quellen für Moral, Ethos, Humanität zu fragen ist.
  • Die Religionen und Weltanschauungen haben eine unverzichtbare Aufgabe:
    Sie weigern sich das Faktische (auch das der sogen. Moderne) als das Normative hinzunehmen oder gar anzuerkennen.
  • Es gibt Religionen und Weltanschauungen nur in der Pluralität, keine verfügt über einen Absolutheitsanspruch, da nur Gott das/der "Absolute" ist, jede menschliche Erkenntnis oder Religion ist auf das Letzte ausgerichtet, lebt und bewährt sich aber im Vorletzten (D. Bonhoeffer).
  • Gerade weil die wissenschaftliche wie die religiöse Erkenntniskapazität des Menschen begrenzt ist, ist das menschliche Fragen, Suchen, Forschen und Streiten im menschlichen Prozess zur Ermittlung lebenswerter und lebbarer Wahrheiten angesagt (G.E.Lessing).
  • Wie gehen moderne Gesellschaften intern und nach aussen mit komplexen Lebensverhältnissen, Konflikten, Dissidenten und Gewalt um?

11. Es geht sozusagen um die Fragen Immanuel Kants:

  • Was kann ich wissen?
  • Was soll ich tun?
  • Was darf ich hoffen?
  • Was ist der Mensch?

  • Wer auf die Bemühung um Antwort auf diese Fragen verzichtet, existiert zwar, lebt aber nicht.

12. Religion hat es nicht nur

  • mit dem privaten, persönlichen Leben zu tun,
  • sondern auch mit dem öffentlichen und sozialen.

13. Menschen und Völker in der Bibel und im Koran

    stehen in Beziehung zueinander und damit vor der Frage nach einer gerechten und liebevollen, nach einer "gnadenreichen", hoffnungsvollen und heilvollen Beziehung gegen alle gnadenlosen, hoffnungslosen und unheilvollen Verhältnisse und Beziehungen.

14. Wenn ich Politik verstehe als die menschliche Aufgabe

    eines menschlichen Lebens, eines menschlichen Zusammenlebens und eines menschlichen Überlebens, dann ist jede Religion und Weltanschauung nach ihrem Beitrag zum "Leben in Fülle" gefragt.

15. Mit ihren Beitragen stehen alle im Wettstreit um die "bessere Gerechtigkeit"

    (so Jesus in der Bergpredigt Mt 5,20).

16. Die biblischen Dimensionen des Denkens und Glaubens

    eines verantwortlichen Lebens sind universal, sie transzendieren den status quo, sie sind nicht auf das innere oder jenseitige Leben beschränkt.

17. Die Bibel

    in ihren vielen Büchern und Literaturgattungen enthält Geschichten, Lieder, Gebote, Gebete, Proteste zu einem gelingenden Leben wie von einem missratenen Leben.